Donnerstag, 19. April 2012

Tag 4 - Die dicke Frau mit Hund / Wahrnehmungstendenzen o. 'den Richter im Kopf'

(verfasst am 17.04.2012)

Es ist erstaunlich wie schnell und auch unbemerkt die eigenen Beurteilungsprogramme gedanklich ablaufen. Man glaubt für einige Momente tatsächlich zu wissen, um was für eine Person es sich handelt, wenn man jemanden trifft oder auch nur flüchtig sieht - und die meiste Zeit bleibt man dabei. Der Einfachheit halber.
Ich hatte kürzlich ein solches, sehr erhellendes Erlebnis, d.h. eigentlich waren es zwei Begegnungen mit derselben Person. Die erste, die mich zu einer solchen, eben genannten Beurteilung kommen ließ, und eine weitere, die mir die tatsächliche Lage, oder zumindest eine völlig andere Situation offenbarte. Es war keine Auflösung der Vermutung in dem Sinne, dass ich zu einem weiteren, erneuerten Urteil gekommen wäre, sondern derart dass ich mir klar machen konnte über die Sinnlosigkeit und das Potential der Verblendung meiner Selbst, das eine so gefällte, unbewußte und unbedachte - vielleicht sogar unbeabsichtigte - Beurteilung mit sich bringt.
Tatsächlich ist dieser Vorgang ein Teil der Gedankenwelt, dieser künstlich erzeugten Weltsicht des eigenen Ichs, die dich wie Ferngesteuert bewegt und deine Handlungen über die gedanken und Emotionen bestimmt. Dieses Denken hält dich immer vom Leben ab.
Ich war an diesem Tag der ersten begegnung mit einem Hund eines Kunden unterwegs und ich sah in etwa 300 Meter Entfernung die Straße herunter eine Frau mittleren Alters mit einem Schäferhund Mischling an der Leine aus einem Haus kommen und an die Straße gehen.
Ich sah zunächst, dass der Hund sehr nervös zu sein schien, jedenfalls wirkte er sehr aufgeregt. Dann registrierte ich das enorme Übergewicht der Frau, sie war klein und schien sehr unbeweglich.
Der erste beurteilende Gedanke stand sozusagen schon bereit und schoß mir nun durch den Kopf (im wahrsten Sinne):
"Na klasse, die kann dem Hund bestimmt einen tollen Auslauf bieten!"
Ich rechtfertigte diesen gedanken vor mir selbst mit der Annahme, dass es mir schließlich in erster Linie um das Wohl des Hundes ginge, der sich ja schließlich seine Besitzer nicht aussuchen kann.
Wie scheinheilig das tatsächlich ist, wird mir jetzt vollends klar.
Natürlich steht hinter so einem Gedanken allein die Egoistische Selbstherrlichkeit, das Gefühl der Erhabenheit und der scheinbaren Überlegenheit. "Bei mir hätte es dieser Hund sicher viel besser, ich weiß was man tun muss, ich kann mich beherrschen und fresse nicht so viel und maßlos wie diese Frau wenn ich die Verantwortung für so ein Tier trage..." etc., etc...
Doch meine Beobachtungen gingen noch etwas weiter. Privatdetektiv B. Neumann sah dann mit Erstaunen, dass die Frau nachdem sie etwa 10 Meter die Straße herauf und wieder herunter geschlendert war mit ihrem Hund wieder ins Haus zurückkehrte. Ich war natürlich Sprachlos und einhundertptozentig in meiner Beurteilung bestätigt.
"Unmöglich" dachte ich mir, "nicht einmal einen vernünftigen Spaziergang macht sie! Wahrscheinlich steht das Essen auf dem Tisch und sie will sich nicht zu weit davon entfernen."
Ja, das sind wirklich häßliche Gedanken und man kann sich kaum die Gehässigkeit vorstellen zu der man in Gedanken fähig ist. Diese Dinge schleppt man dann so mit sich herum und man macht sich trotz völliger Unwissenheit vor, Herr der Lage in seinem Kopf zu sein.
Ich beobachtete diesen Vorgang noch zwei weitere Male und meine innere Reaktion war nicht minder geringschätzend.

Etwa drei Wochen später kam mir die Frau ohne ihren Hund entgegen, als ich wieder mit meinem Gast-Hund unterwegs war. Sie begrüßte mich und den Hund der mit mir unterwegs war und ich wollte gerade nach ihrem fragen, als sie anfing mir zu erzählen, dass sie ihn vor wenigen Tagen eingeschläfert hatten. Ich merkte dass sie sehr mitgenommen davon war und Schwierigkeiten hatte dabei ruhig zu bleiben. Dennoch erzählte sie mir kurz seine Geschichte. Er hatte schwere Epilepsie und war kaum in der Lage, sich lange auf den Beinen zu halten. Die Anfälle kamen so häufig, dass sie nicht mehr viel für ihn tun konnten und auch die Behandlungen nicht mehr anschlugen. Ich konnte heraushören wie schwer sie sich die Entscheidung gemacht hatten und dass sie sehr an diesem Hund hingen. Mein inneres Bild war völlig erloschen und in diesem Moment war mir natürlich nicht danach zumute mit mir selbst ins Gericht zu gehen. Doch hinterher verbrachte ich den Rest meines Spazierganges mit intensiver Selbstarbeit. Ich musste mich sehr über mich wundern und es gab einiges mit 'mir' zu klären.


Etwa drei Wochen später, nachdem ich in der selben Straße den Hund meines Kunden ins Haus gebracht und mich bereits zur Abfahrt ins Auto gesetzt hatte, sah ich die Frau die Straße entlanglaufen (übrigens sehr viel weiter entfernt von ihrem Haus als 10 Meter...) mit einem kleinen Welpen an der Leine. Ich freute mich sehr über diesen Anblick und entschied mich auszusteigen um den kleinen einmal zu begrüßen und mich zu erkundigen wie es dazu gekommen ist und wie es der Familie geht. Wir hatten ein angenehmes Gespräch, teilweise sogar sehr 'tiefsinnig' im Bezug auf das Leben, den Tod, die eigenen egoistischen Empfindungen als 'Hinterbliebene' und wie man damit umgeht usw.

Mir ist klar, dass dies nur wie eine kleine Banalität erscheint, doch hat sie große Wirkung, denn man stelle sich vor wie viele tausende solcher Begegnungen und innerer Aburteilungen man so monatlich trifft und in welchem Maße das nicht nur die Selbstehrlichkeit und die Wahrhaftigkeit der Eigenen Weltsicht, sondern auch das eigene Umfeld und die Menschen mit denen man sich befasst beeinflusst.

Ich vergebe mir selbst, dass ich es mir erlaubt und es zugelassen habe, einen anderen Menschen auf der Grundlage meiner persönlichen, oftmals unbekannten Empfindungen, Erfahrungen und Vorstellungen zu Beurteilen um mir ein Bild von ihr zu machen.

Ich vergebe mir selbst, dass ich es erlaubt und zugelassen habe, von meinen Gedanken ausgehend ein Bild in die Person zu projizieren und dieses Bild meinen persönlichen Vorstellungen und meiner Weltsicht rücksichtslos anzupassen.

Ich vergebe mir selbst, dass ich es erlaubt und zugelassen habe, von meiner Persönlichkeitsstruktur bestimmt zu werden und mich der Gewohnheit der gehässigen Be- oder Abwertung anderer hinzugeben.

Ich vergebe mir selbst, dass ich es erlaubt und zugelassen habe, dass ich mich gedanklich von 'den anderen' abtrenne und in völliger Missachtung der Wirklichkeit das Bild von mir selbst als Maßstab in diese Illusion setze.

Ich vergebe mir selbst, dass ich es erlaubt und zugelassen habe, mich in diesem Vorgang der Beurteilung als gerechtfertigt wahrzunehmen und das Bild eines Schutzlosen Tieres zu diesem Zweck zu missbrauchen.

Ich vergebe mir selbst, dass ich es mir erlaubt und es zugelassen habe mich als mein Ego and dem Bild der Wirklichkeit das ich mir zubnächst zurechtgeschnitten habe aufzureiben und diesen emotionalen Energieschub auf merkwürdige Art zu genießen.

Ich vergebe mir selbst, dass ich es erlaubt und zugelassen habe die Konsequenzen meiner Gedanklichen ausuferungen in der ihrer Gehässigkeit und Abschätzogkeit nicht wahrzunehmen.

Ich vergebe mir selbst, dass ich es erlaubt und zugelassen habe, derartige Persönlichkeitsstrukturen in mir zu kultivieren und für viele unbeobachtet arbeiten und somit mein Leben und das anderer mit bestimmen zu lassen.

Ich vergebe mir selbst, dass ich es erlaubt und zugelassen habe meinen Geist zu missbrauchen, um mich als Gedankliche Person besser zu fühlen.

Ich vergebe mir selbst, dass ich es mir nicht erlaubt und zugelassen habe meine Frustration und Enttäuschung über tatsächliche geschehene und erlebte Ereignisse in denen Menschen sich rücksichtslos, gierig und verantwortungslos verhalten zu transformieren um Lösungen zu finden und anzuwenden die dem gesunden Menschenverstand entspringen, und stattdessen diesen Ärger und diese unterschwellig vorwurfsvolle Haltung in Situationen projiziert habe für die ich scheinbar einfache gedankenlösungen hatte.

Ich vergebe mir selbst, dass ich es erlaubt und zugelassen habe die Menschen in Gedanken gegeneinander zu polarisieren und mein besseres Wissen um die tatsächlichen Ursächlichkeiten meiner Empfindungen bewußt zu ignorieren.

Ich vergebe mir selbst, dass ich es mir erlaubt und es zugelassen habe diese Frau aufgrund ihres Übergewichts zu verurteilen.

Ich vergebe mir selbst, dass ich es mir erlaubt und es zugelassen habe mir über eine mir unbekannte Situation ein Urteil zu bilden.

Ich vergebe mir selbst, dass ich es mir erlaubt und es zugelassen habe, einen Hund aus der Ferne einer Scheinanalyse zu unterziehen, die im Grunde der Diffamierung der ihn führenden Person dienen sollte.

Ich vergebe mir selbst, dass ich es erlaubt und zugelassen habe mich meinen Konditionierungen und den erlernten Gewohnheiten zu unterwerfen anstatt sie zu konfrointieren und die notwendige Selbstvergebung zu praktizieren um mich und das Leben von ihnen zu befreien.


Ich erkenne wie die Scheinheiligkeit und Heuchelei mir selbst gegenüber mir die Sicht auf das Leben und zur Fähigkeit freier Entscheidung versperrt. Ich kann und ich werde solche und ähnliche Gelegenheiten nutzen um die verborgenen Programme und Gedankensysteme ans Licht zu zerren und bloßzustellen, so dass ich mir selbst darüber klar werde zu welchem Maße ich konditioniert und vorprogrammiert 'lebe'. In jedem Moment der automatisierten Beurteilung eines anderen Menschen vergegenwärtige ich mir das nahezu idiotische Wesen dieser Denkmuster und Vereinfachungsstrategien. Ich erkenne im Gewahrsein meiner Existenz als atmendes, physisches, gleichwertiges Wesen, eins mit allem Leben, den wahren Grund dieser Vorgehensweise im Geist (an), die Rechtfertigung der Überheblichkeit des Egos, der illusionären Instanz im Bewußtsein, deren Existenz eine reine Glaubensfrage ist. Das Leben selbst fordert die Wahrhaftigkeit und Selbstehrlichkeit, das selbstbestimmte, selbstverantwortliche Handeln. Darin geht das Leben auf und dieser Weg führt zur einzig möglichen Freiheit als Mensch, der Selbstbefreiung von selbstzerstörerischen Ego-Konzepten, von Missbrauch, Gier und Gehässigkeit. Befreiung als das - und hin zum - Leben bedeutet, in seiner Identität und Existenzsicherheit nicht abhängig zu sein von komparativen Persönlichkeitsideologien. Die Konditionierung zu solchem Denken ist die Projektion der Ängstlichkeit einer anerkennungssüchtigen und kriegerischen Idee einer Wesenheit, die nichts weiter als die Vorstellung eines durch anerzogene und vom Umfeld bestimmte Schemata erdachten Bildes ist.

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