Montag, 23. April 2012

Tag 7 - Der Käfer unter meinem Finger





Es gibt eine Erinnerung aus meiner frühen Kindheit, ich habe nicht viele, nur sehr sehr lückenhafte Bilder und Empfindungen die mir in den Sinn kommen wenn ich an meine frühe Kindheit denke, und an dieses eine über das ich in dem Blog hier schreibe erinnere ich mich nicht besonders gerne.

Eigentlich hatte ich es vergessen. Ich habe über viele Jahre nicht daran gedacht. Aber es war immer präsent, das weiß ich jetzt. Ich konnte mir nie erklären, warum ich in bestimmten Situationen so ein merkwürdiges Gefühl hatte, ich habe es immer auf meine 'natürliche Intuition' gechoben, bis ich verstand was es wirklich damit auf sich hat. Immer wenn ich zum Beispiel jemanden sah der ein Insekt tötete, beiläufig, mit einem Schlag oder Tritt, einfach so ohne sich damit aufzuhalten, dann verspürte ich ein unangenehmes Bedürfnis mich aus dieser Situation zu entfernen, mich von dieser Person zu entfernen. Ich konnte mir dieses Bedürfnis immer sehr gut damit erklären, dass es eben meine Tierliebe, meine Achtung vor dem Leben sei die mir diese Gefühle verursacht. Ich habe das immer geglaubt aber nie wirklich verstanden, bis vor einiger Zeit. Doch es ist noch mehr was in solchen Momenten in mir vorgeht. Etwas unerklärliches, ein Gefühl der Schuld, der Mitschuld. Auch meine eigene Abneigung gegen bestimmte Insektenarten, meine Angst vor ihnen hat mit dieser Erinnerung zu tun.

Es ist nur ein Moment, aus dem Zusammenhang gerissen, ich weiß nicht einmal mehr wo genau es stattgefunden hatte. Ich war klein, ein Kind, etwa vier vermutlich und ich hockte vor einem Haus auf einer Terasse. Offenbar beobachtete ich einen kleinen, schwarzen Käfer der direkt vor mir auf dem Boden entlangkrabbelte. Ich schaute ihn an, ohne zu wissen was das ist. Ich sah ihn sich bewegen und vielleicht wollte ich ihn anfassen, ihn berühren, vielleicht aber wollte ich auch durch ihn hindurchfassen, sehen woraus er gemacht ist, wie hart er ist, ob er sich kalt oder warm anfühlt, ich weiß es nicht. Von einem Augenblick auf den anderen sah ich meinen Finger auf den Käfer gedrückt und ich spürte wie etwas aus ihm herausquoll. Es war eine breiige Masse, und der Käfer krabbelte nicht weiter, er stoppte seine Bewegung. Ich hob den Finger und sah, dass er 'kaputt' war. Aber ich bin sicher ich verstand, dass ich ihn getötet hatte, diese Erkenntnis traf mich wie ein Blitz. Es war offensichtlich, dass man ihn nicht mehr 'ganz' machen konnte und ich war von meiner Erfahrung völlig überwältigt. Diese Endgültigkeit die ich verursacht hatte, diesen Halt, dieses Ende einer Existenz. Ich konnte sicher nicht verarbeiten und mir klarmachen was genau da geschehen war, doch ich konnte die Umstände 'Begreifen'. Ich wusste jetzt wie sich das anfühlt, aber was nun? Mein 'Experiment' hatte Konsequenzen, und zwar tödliche Konsequenzen. Dieses Bild, dieser Moment, ich in der Hocke auf den matschigen Fleck auf dem Boden starrend, der gerade noch ein krabbelndes, lebendiges Ding war, meine Sprach- und Fassungslosigkeit über mich selbst, die Frage nach dem 'Warum hast du das überhaupt getan?', hat sich mir ins Unterbewußtsein eingebrannt. Ich habe es nie wahrgenommen oder wahrnehmen wollen, ich habe mich nie eingehend damit beschäftigt und so konnte über die Jahre unter der Oberfläche unbemerkt dieses unterschwellige, kontinuierliche Schuldgefühlheranwachsen und mich wie auch meine Sicht und meinen Umgang mit bestimmten Situationen bestimmen und beeinflussen. Das Fatale an dieser Sache ist nicht unbedingt, dass ich eine Abscheu gegen Sinnlose Zerstörung von allen Arten von Leben verspüre, sondern vielmehr, dass sich meine Emotionalität bezogen auf solche Vorgänge für mich selbst in unerklärlicher und unkontrollierbarer Weise entlädt, und zwar so, dass mein Verhalten entweder in Frustration und Resignation oder aber in Aggression mündet, und dass diese Art des unreflektierten Umgangs mit solchen Vorgängen die Möglichkeit einer Aufklärung oder gar eines erhellenden Eingreifens und Argumentierens auf der Basis von gesundem Menschenverstand und vernünftiger, akzeptabler Überzeugungsarbeit verhindert. Was natürlich für mich in der Erkenntnis der Notwendigkeit solcher 'Aktivität' zu noch mehr Frustration und Resignation führen kann und auch führte.
Und so ist es in allen nur erdenklichen Bereichen, -besonders auffällig bei jedwedem Aktivismus im Namen sogenannter freiheitlicher Prinzipien, Tierschutz, Menschenrechte, Anti-Atomkraftbewegungen, Anti-irgendwas Bewegungen-, dass die Persönlichkeiten in vielen Fällen die wahren Motive die sie antreiben nicht wirklich verstehen, weil die Selbstarbeit fehlt, weil sie sich unter Umständen selbst nicht verstehen. Dann kommen Dinge dabei heraus wie blinder, militanter Tierschutzaktivismus, diffamierende und die Menschen spaltende Polarisierungskampangen, das stecken von Fronten und Grenzen um sich und seine Persönlichkeit 'im Namen der guten Sache' an der Gegenseite Aufzureiben und sich so das Gefühl zu geben, etwas sinnvolles zu tun. Doch wir alle können sehen, dass dieser Selbst-blinde Aktivismus in keinem Bereich wirklich zu einer Lösung geführt hat. Einer der Gründe hierfür ist, dass trotz der Annahme und der Vorgabe scheinbar unterstützenswerter Prinzipien die für Freiheit, Gleichheit und lebensbejahendes Engagement sprechen der eigentliche Antrieb der beteiligten Personen seinen Ursprung in Ich-bezogenen, also egoistischen Motiven hat, und das muss ihnen noch nicht einmal bewußt sein.

Ich vergebe mir selbst, dass ich es erlaubt und zugelassen habe, mich selbst zu verurteilen, weil ich als Kind einen Käfer erdrückt habe.

Ich vergebe mir selbst, dass ich es erlaubt und zugelassen habe mich vor der Bewußtmachung dieser Situation aus Angst und Bequemlichkeit zu drücken und dass ich die Folgen dieser Ignoranz nicht sehen wollte.

Ich vergebe mir selbst, dass ich es erlaubt und zugelassen habe, dass ich einen Käfer aus kindlicher Neugier erdrückt habe.

Ich vergebe mir selbst, dass ich es erlaubt und zugelassen habe, aus unterdrückten Schuldgefühlen eine Abneigung und Angst gegenüber Insekten zu entwickeln und dass ich mich über so viele Jahre von dieser Angst habe kontrollieren lassen.

Ich vergebe mir selbst, dass ich es erlaubt und zugelassen habe, aus Selbstverleugnung und der Angst vor der Bewältigung meiner inneren Gedanken- und Emotionssysteme mir und anderen Möglichkeiten der Selbst-veränderung und der eigenständigen Entscheidung für das Leben erschwert oder unmöglich gemacht habe.

Ich vergebe mir selbst, dass ich es erlaubt und zugelassen habe, mir meine Schuldgefühle und ihre Ursachen nicht bewußt und mich somit zum Opfer meiner Selbstbestrafung durch Limitation zu machen.

Ich vergebe mir selbst, dass ich es erlaubt und zugelassen habe mich in Selbstmitleid zu suhlen anstatt in eigenständiger, selbstbewusster Entscheidung mir die Dinge die mich belasten und binden einzugestehen, mir selbst zu vergeben um mich im Sinne und zum Wohle des Lebens wieder Handlungsfähig zu machen.

Ich sehe die Wirkung und die Konsequenzen Ignoranten Verhaltens gegenüber sich selbst. Die aus Gewohnheit, Bequemlichkeit und Unsicherheit einfach akzeptierten emotionalen Muster, die Gedanken- und Wertesysteme die einem so vertraut zu sein scheinen, die dich ja ausmachen sollen, sind für sich allein nicht real, nicht grundlegend wirklich und unveränderbar. Es kommt darauf an im Bewußtsein über sich als Leben, als lebendiges Wesen die Konsequenzen zu überschauen und darin zu erkennen, dass nichts natürliches daran sein kann sich grund- und sinnlos lebensfeindlich und selbstzerstörerisch zu verhalten. Die Chance der Entscheidung in jedem Moment, die mir hätte klar werden können nachdem ich entsetzt vor dem zerdrückten Käfer hockte, bringt die Verantwortlichkeit für all das mit sich, was man sein eigenes Wesen nennt. Und diese Entscheidung kann all das ändern. Ich hatte mich in Schuldgefühlen verrannt, aus Unwissenheit, ohne Anleitung in einer Gesellschaft in der niemand dir zeigt wie du mit deinen Gefühlen arbeiten kannst und musst, wenn du nicht willenloses Opfer deiner selbst werden willst. Reine Unterdrückung, das wird dir gelehrt und das tun wir noch heute. Unsere Systeme, unsere SLEBSTGESCHAFFENEN Systeme, die Geldwirtschaft fordert den effizienten Menschen und Effizienz fordert umgehende Symptomunterdrückung. Dadurch sind wir als Menschheit so krank geworden. Diese Wissenschaft der Unterdrückung all unserer Programmierungen, die Verleugnung unserer Fähigkeit zu eigenständiger Selbstreflektion, das Abwälzen von Verantwortung, all das bricht wie stinkende Geschwüre überall in allen Gesellschaften auf der Erde in fortschreitendem Maße aus.




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