Dienstag, 30. Oktober 2012

Tag 74 - Die Tötung des Falters

ecstaticist / Foter / CC BY-NC-SA
Ich habe seit sehr vielen Jahren ein Problem mit Insekten, eine Angst vor verschiedenen Insektenarten, die ich mir selbst immer mit der Angst vor Schmerzen, also vor einem Stich oder einem Biß begründet habe. Allerdings ist diese Angst die mich auch körperlich überfällt in der Gegenwart eines solchen Insekts nicht nur auf Insekten beschränkt die tatsächlich stechen oder schmerzhaft beißen können, sondern auch auf völlig harmlose, wie zum Beispiel Nachtfalter.

Ich erinnere mich dass ich einmal abends als es schon dunkel war, mit mehreren Freunden an der Eingangstür eines Gebäudes stand, ich war etwa zwölf oder dreizehn, einige von uns waren drinnen, auch ich, und andere standen draußen. Da es sich um eine Glastür handelte und der Innenraum hell beleuchtet war, sammelten sich an der Scheibe der Tür mehrere kleine Falter. Einige der Leute die draußen standen fingen an, die Falter gegen die Scheibe zu zerquetschen, und mit ihren Überresten Spuren an der Scheibe zu ziehen. Ich stand mit anderen drin und konnte also genau zusehen, wie die Jungs diese Falter amüsiert lachend gegen die Scheibe drückten bis sie aufplatzten und wie sie dann den Leib am Glas zerrieben. Ich fand diese Situation äußerst abstoßend und der Moment verfolgte mich als Bild verbunden mit der Emotion der Abscheu und der Ohnmacht, auch des 'allein seins', da ich mir vorkam als sei ich der einzige gewesen der nicht amüsiert war bei diesem Geschehen. Heute weiß ich, dass viele, vor allem Kinder die sich verunsichert fühlen und den Schutz der Gruppe suchen, aus sogenanntem Gruppenzwang mitmachen und mitlachen, doch was spielte das damals für eine Rolle. Dieses Bild jedenfalls verfolgte mich lange Zeit und offensichtlich ist es auch jetzt noch präsent. Diese Angst vor Faltern ist soweit ich mich erinnern kann seit diesem Zeitpunkt stark gestiegen, es mag sein, dass ich sie auch vorher schon nicht besonders mochte, aber ich war nie geneigt ihnen etwas anzutun, geschweige denn ihnen überhaupt zu nahe zu kommen.

Ich habe mich nie wirklich mit dieser Angst auseinandergesetzt, ich habe einfach in den Situationen versucht den Kontakt zu vermeiden, bin ausgewichen, oder habe mich nach drinnen verzogen. Manchmal wenn ich einen solchen Falter in meiner Wohnung entdeckt hatte, konnte ich nicht zur Ruhe kommen oder schlafen bis ich sicher war, dass er sich nicht mehr im Zimmer befand. Manchmal habe ich sie unter einem Glas gefangen, was mich schon viel Überwindung gekostet hat, manchmal habe ich sie mit Licht aus dem Zimmer gelockt und die Tür verschlossen. Getötet, also direkt erschlagen habe ich keine, weil ich es nicht wollte und auch nicht konnte. Ich war aber auch an der einen oder anderen Tötungsaktion beteiligt, wenn ich beispielsweise eine meiner Katzen beiläufig auf den Falter aufmerksam gemacht habe...

Aber worüber ich hier schreibe ist ein besonderes Ereignis, bei dem ich ganz bewußt aus reiner Angst, vollkommen unnötigerweise ein besonders großes Exemplar dieser Falter langsam habe sterben lassen. Es ist etwa zehn Jahre her, ich lebte alleine in einer kleinen ein Zimmer Wohnung in Kassel. Ich war gerade am Saubermachen in dem kleinen Flur dieser Wohnung. An der Wand hing eine halbrunde Beleuchtung aus Glas, nach oben offen, geformt wie eine halbe Schale. Plötzlich spürte ich wie in diesem engen Flur ein wirklich dicker, fast schwarzer Falter an meinem Kopf vorbeiflog. Ich zuckte sofort unwillkürlich zusammen, ließ alles fallen was ich in den Händen hatte und spürte wie sich meine Nackenhaare aufstellten. Kurz: ich geriet in eine kleine bis mittlere Panik.

Völlig überwältigt von meiner Angst, unfähig vernünftig zu reflektieren was ich hier tue, was ich tun sollte, weil ich mich nie selbstehrlich und eigenverantwortlich mit meiner Angst auseinandergesetzt hatte, fand ich keine Lösung die ohne dem Falter Schaden zuzufügen für mich persönlich die Situation 'bereinigt' hätte.
Ich hatte den Staubsauger bereitstehen und überlegt ob ich ihn wohl einfach wegsaugen sollte. Doch ich hatte immer noch ein schlechtes Gefühl dabei, ihn zu töten. Das Fenster aufmachen brachte auch nichts, da es wahrscheinlich ewig gedauert hätte bis er da hinausgeflogen wäre. Dann flog er auf einmal von oben in die Schale der Wandlampe die ich eben beschrieben hatte und flatterte kurz darin herum, und dann wieder heraus. Mir kam der Gedanke dass ich ihn darin einschließen könnte, wenn ich einfach etwas oben auf die Lampe legen würde soald er hineinfliegt. Also machte ich die Lampe an, um ihn hineinzulocken. Das funktionierte prompt und ich nahm ein Buch und legte es oben auf die Lampe. Dann schaltete ich die Birne wieder aus, denn ich wollte ja eigentlich nicht, dass der Falter durch mich zu Schaden kommt. Es war wie gesagt ein sehr großer Falter und ich konnte ihn gut durch das milchige Glas der Lampe umherflattern sehen, und vor allem konnte ich ihn auch hören, wie er immer wieder gegen den Buchrücken und das Glas stieß, herunterfiel, sich berappeln musste um dann wieder gegen die Glaswände zu flattern. Alleine dieses Geräusch bereitete mir Unbehagen, ich musste immer wieder nachsehen ob er noch gefangen war und jedesmal zuckte ich zusammen wenn er sich in d´seiner Falle bewegte und versuchte zu fliegen.
Ich war immer mehr abgestoßen und angeekelt von dem Anblick, von dieser ganzen Situation, und eigentlich von mir selbst, aber dazu komme ich später.
Ich wußte irgendwann nicht mehr weiter, ich war so sehr im Wahn meiner Ängste, dass ich an nichts mehr denken konnte als an diesen Falter. Ich empfand ein Gefühlschaos aus Scham, Mitgefühl, Ekel und eben ängstliche Hilflosigkeit. Irgendwann sagte ich mir, dass ja der Punkt kommen muss für mich eine Entscheidung zu treffen, also entweder den Falter wieder freizulassen, oder aber ihn dort in der Lampe verenden zu lassen, was bedeuten würde, dass er dort verbrennen wird, spätestens dann wenn ich die Lampe abends anmachen muss. Doch ich konnte mir kaum vorstellen das einfach so beiläufig mit anzusehen wenn ich auf dem Weg ins Bad nachts oder abends das Licht anschalten würde. Also konnte diese 'Lösung' dieses Problems als das ich es wahrgenommen habe nur jetzt sofort herbeigeführt werden. Ich konnte mir nicht vorstellen, diesem Falte noch irgendwie näher zu kommen, ihn womöglich zu berühren oder ihn aus der Nähe zu sehen, also kam es für mich aufgrund meiner diffusen Ängste nicht in Frage ihn in einem Tuch, in der Hand oder einem Gefäß aus der Lampe hinauszubefördern. Ich war dazu einfach nicht in der Lage, bzw. nicht gewillt dazu. Also musste ich mich - und mit musste meine ich nicht, dass ich keine andere Wahl gehabt hätte, es war einfach eine Ausschlußentscheidung auf der Basis dessen, was ich mir selbst als 'Persönlichkeit' erlaubt und akzeptiert habe zu sein, einschließlich der Akzeptanz meiner Angst und der resultierenden Konsequenzen - für die zweite 'Lösung' meines selbstgeschaffenen Problems enscheiden, auch wenn es mir nicht leicht gefallen ist, denn zumindest in Gedanken glaubte ich noch ein 'guter' und 'gewissenhafter' Mensch zu sein...
Ich ging dann also in den Flur, sah den Falter am Boden der Lampe sitzen, und schaltete das Licht ein. Er blieb sitzen, ich dachte 'vielleicht ist er schon tot...' und es beschlich mich die verzweifelt lächerliche Hoffnung, dass ich mir vielleicht einreden könnte dass er an Altersschwäche gestorben sei noch bevor ich mich zu dem mörderischen Plan hatte hinreißen lassen. Doch dann zuckten seine Flügel plötzlich und er versuchte wieder nach oben zu fliegen, stieß vor die helle Birne und fiel flatternd wieder auf den Boden. Immer wieder flog er los, nur um wieder gegen das Buch und dann gegen die jetzt wohl schon heiße Birne zu fallen. Ich war letztlich sogar zu feige mir den Todeskampf dieses Falters mit anzusehen und verließ den Flur. Erst sehr viel später als ich auch die Geräusche nicht mehr hören konnte ging ich zurück, sah dass sich nichts mehr bewegte in der Lampe und schaltete das Licht aus.
Erst am nächsten Morgen ging ich näher zur Lampe. Der Falter lag auf dem Boden der Lampe als würde er nur so da sitzen, ungefähr so wie er dort saß als ich das Licht eingeschaltet hatte. Ich schaltete das Licht noch einmal ein und aus, um zu sehen ob sich nicht doch noch etwas regen würde. Erst dann nahm ich vorsichtig das Buch von der Lampe.
Ich kam mir vor wie der Henker der den Elektrischen Stuhl eingeschaltet hat. Ich fühlte mich mies.
Aber warum? Wegen des Falters? Ich fühlte mich eigentlich nur deshalb mies, weil das, was ich da getan hatte, absolut unvereinbar war mit dem Bild, das ich als Persönlichkeit eigentlich von mir hatte. Ich, ein Tierlieber Mensch, Vegetarier, Aktivist (ich spreche wie gesagt von mir vor etwa 15 Jahren), Freiheitsliebend, und dann eine so durchtriebene und hinterhätige Tötung eines Insekts in einer hilflosen und ausweglosen Situation. Wie sollte ich das wieder mit mir und meiner Selbstwahrnehmung vereinbaren? Das bereitete mir im Grunde, auch wenn es mir nicht direkt bewußt war, die Bauchschmerzen. Und der Grund warum ich das nicht erkennen wollte, war die Angst vor meiner Eigenverantwortlichkeit, und zwar nicht nur der für das unnötige und doch recht sadistische Töten dieses Falters, sondern die Verantwortlichkeit für die Konsequenzen die aus meiner Feigheit vor der Bearbeitung und Überwindung meiner irrationalen Ängste als Mensch herrühren. Die Eigenverantwortliche Entscheidung gerade zu stehen für alle selbstbestimmten Entscheidungen, auch jenen, die Ängste zulassen und die sie unkontrolliert wuchern und mich und mein Verhalten bestimmen lassen. So ist es mit mir und mit dem Mensch an sich, es ist genau dieses Problem dass wir unbegründet Verhaltensweisen akzeptieren und erlauben, die aus irrationalen Ängsten aufgrund früherer, ganz persönlicher Prägungen entstanden sind, und die uns nun bestimmen anstatt dass wir als bewußte Wesen uns zur Selbstbestimmung entscheiden und diese Ängste, Befürchtungen, irrationalen gedanklichen Prophezeihungen und so weiter eigenständig bearbeiten, zurückverfolgen und transformieren, daraus lernen, damit wir hier und jetzt im Leben, in jedem Moment wirklich frei und unbeeinflusst, selbstbestimmt und eigenständig entscheiden können wie wir handeln und woran wir unser Handeln ausrichten, damit wir auch selbstehrlich und vor dem Leben jederzeit dafür gerade stehen können.

Ich werde in mindestens einem weiteren Blog noch näher auf die Zusammenhänge die sich mir in dieser ganz bestimmten Beziehung zu Insekten und meiner eigenen 'Geschichte' durch das Schreiben offenbaren eingehen und auch die Selbstvergebung und Selbstkorrektur anschließen.

Free DIP Lite online course out now!:


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen